„Gibt es ihn, den Ost-Blick?“ Das Abendpodium im Potsdam Museum

„Es war einmal… die DDR,“ lautete der Titel einer Abendveranstaltung, die den ersten Tagungstag abrundete. Das Podium war prominent besetzt: mit der Hörfunkjournalistin und Schriftstellerin Marion Brasch, der Fernsehmoderatorin Victoria Herrmann und dem Autor und Theaterintendanten Steffen Mensching. In der Diskussionsrunde gingen diese drei „Medienmenschen“ auf ihre Ost-Biografien ein, teilten Erinnerungen an die Transformationszeit und blickten auf Herausforderungen, vor denen die junge Generation heute steht. Die Kommunikationswissenschaftlerin Bianca Kellner-Zotz führte als Moderatorin durch den Abend. Der Historiker Nikolai Okunew, ein Experte für den Wandel der ostdeutschen Fernsehlandschaft, lieferte eine geschichtliche Einordnung. Ein Rückblick auf kein alltägliches Podiumsgespräch, bei dem es nicht nur um das einmal dagewesene Land ging, sondern auch um Gegenwart und Zukunft.

V. l. n. r.: Bianca Kellner-Zotz, Marion Brasch, Steffen Menschen, Victoria Herrmann, Nikolai Okunew
(Foto: Marion Schlöttke / ZZF Potsdam)

Der Saal des Potsdam Museums ist sehr gut gefüllt. Steffen Mensching betritt die Bühne, das Abendprogramm kündigt eine „Kunstperformance“ an. In Stand-Up-Manier erzählt Mensching Geschichten aus seinem Leben, die deutlich machen, dass zum Widerstand und Protest manchmal auch Anpassung, Kompromisse und Verbiegungen gehören und dass sich eine öffentlich geäußerte Kritik und Selbstzensur nicht gegenseitig ausschließen. Zwischendurch liest Mensching seine „Sieben Texte aus dem Osten“ vor. Dabei sind die Gedichte so kritisch-bissig und pointiert, dass viele kaum glauben, dass sie alle in der DDR abgedruckt werden durften.

Auf dem Podium geht es anschließend um den „Ost-Blick“ und die zentralen Fragen des Projekts „Medienmenschen“, das Bianca Kellner-Zotz verantwortet: Erinnern, beschreiben und interpretieren „Medienmenschen“ mit Ost-Biografie die DDR, die Wendezeit und die deutsche Wiedervereinigung anders als ihre Kolleginnen und Kollegen im Westen? Wie schlagen sich diese Unterschiede in ihrem Werk nieder? Können der Journalismus und die Kunst etwas zum Diskurs beitragen, etwas leisten, was insbesondere der Politik nicht gelingt?

Die kurze Zeit der Anarchie

Wenn Marion Brasch und Viktoria Herrmann auf ihre Ost-Biografie zurückblicken, rückt ein ganz bestimmter, prägender Lebensabschnitt in den Vordergrund: die kurze Phase der ungezähmten journalistischen Freiheit, die zwischen dem Rücktritt bzw. der Entlassung von Erich Honecker und der ZK-Sekretäre für Wirtschaft (Günter Mittag), Agitation und Propaganda (Joachim Herrmann) am 18. Oktober 1989 und dem Frühjahr 1991 lag. Dann wurde der Rundfunk auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in Strukturen des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems überführt.

Brasch, damals beim DDR-Jugendsender DT64, und Herrmann, Moderatorin der ersten Stunde bei Elf 99, der Jugendsendung des DDR-Fernsehens, schwärmen von einer Zeit des Selbermachens, in der Redakteurinnen und Reporteure ihren Traum vom „richtigen Journalismus“ erst einmal verwirklicht haben. Bei DT64 wurde die Intendantin abgesetzt, bei Elf 99 der Chefredakteur, „wegen Unfähigkeit.“ In der Elf 99-Sendung „Pickel, Pop und Politik“ wurde der Rücktritt vom Politbüromitglied Harry Tisch live auf den Weg gebracht. „Eine Demokratisierung, eine Revolutionsbewegung nach der Revolution,“ sagt Marion Brasch und erzählt vom Journalismus „auf Augenhöhe“ mit Hörerinnen und Hörern:

„Wir gehen für euch dorthin, wo es interessant ist, und erzählen euch davon.“

Ähnlich beschreibt auch Herrmann die damalige Arbeitsweise: „Wenn irgendwo was war, sind sie [Reporteure und Kameraleute] rausgefahren, dann kamen sie mit dem aktuellen Filmmaterial, das wurde geschnitten, und es ging auf Sendung.“ Keine Kontrolle, keine Partei- und Redaktionsaufträge, keine Abnahme. In das neu eingerichtete, mit West-Kameras aufgerüstete Studio von Elf 99 wurden Falco, Nena und andere Westbands eingeladen. „Das war wirklich eine paradiesische Zeit für uns alle,“ erinnert sich Brasch: ein „großes Kino.“ Schließlich wurde DT64 abgeschaltet, Braschs Brief an die Bundesregierung konnte dies nicht verhindern. Vom Umbruch spricht auch Victoria Herrmann:

„Das war für uns wirklich fantastisch, bis dann RTL kam. Und die haben uns dann reglementiert.“

In die Diskussion über diese „Zeit der Anarchie“ bringt Nikolai Okunew einen kritischen Kommentar aus der Perspektive eines Historikers ein:

„Ich will ein bisschen Wasser in den Wein kippen und sagen, dass das eigentlich in der Form nur schwer vorstellbar war, dass das fünf oder zehn Jahre so funktioniert, ohne Kontrolle, ohne Quoten usw.“

Steffen Mensching bezweifelt, ob man das nicht tatsächlich hätte durchhalten können, widerspricht und macht die Politik verantwortlich: „Das ist aus bestimmten Gründen verhindert worden.“ Man habe den Ostlern nicht zugetraut, aus der Erfahrung ohne „Rotlichtbestrahlung“ gelernt und Know-how aufgebaut zu haben. Stattdessen sei alles dem „West-Vorbild“ angepasst worden. Marion Brasch schlägt einen versöhnlichen Ton an: Es ist zwar schade, dass vieles, was gut gelaufen ist, nicht in das westliche Modell mitintegriert wurde. Aber es gebe ja Beispiele, dass eine aufgeklärte Form von Journalismus möglich ist, etwa auf ihrem Sender radioeins: „Es ist ja sehr viel von der DT64-Idee in dem, was wir heute machen. Der Geist ist schon da drin. Insofern sind wir die Sieger der Geschichte.

„Das bessere Deutschland“ und der Weg aus der Sackgasse?

Unterschiedliche Jahrgänge, Lebensläufe und Erfahrungen, aber mindestens eines haben die Medienmenschen auf der Bühne gemein: Sie halten die Idee hoch, mit der die DDR angetreten war.

„Eine Idee, ein Land aufzubauen, das anders ist, das bessere Deutschland,“

sagt Victoria Herrmann.

Steffen Mensching schlägt die Brücke in die krisenhafte Gegenwart: Vor allem die junge Generation müsse sich von der Illusion verabschieden, es werde jetzt immer so weiter gehen und die „Geldmaschine“ werde weiter funktionieren. Diese Generation werde sich auf ganz andere Fragen einstellen müssen, denn „die glücklichen Jahre“ des Expandierens seien vorbei. Wir hätten schließlich erlebt, wohin die neoliberale Logik und der freie, ungebremste Markt führten: „Das ist eine Sackgasse.“ „Gerade weil die Krise jetzt da ist,“ meint Mensching, „ist es notwendig, über Alternativen nachzudenken – und die DDR, der Sozialismus als solcher, war als Alternative gedacht.“ Dabei räumt er ein: „Er hat nicht funktioniert und ist zurecht abgewählt worden, weil er sich zu einem doktrinären, autoritären System verschiedener Couleur […] entwickelt hat.“

Deutungskämpfe

Hin und wieder gehen die Meinungen an diesem Abend weit auseinander, vor allem bei der Bewertung des „Vereinigungsprozesses“ und seiner Auswirkungen auf die Gegenwart. Führten die Umbruchserfahrung, die Arbeitslosigkeit und das Sich-neu-einrichten-Müssen dazu, dass Ostdeutsche für die Herausforderungen der aktuellen Krisen besser präpariert, ja „gewappnet,“ sind? Oder sei ihr „Reservoir an transformationsbedingtem Stress,“ wie Nikolai Okunew betont, erschöpft – und bedinge deshalb Frustration, anti-demokratischen Tendenzen und sogar Rechtspopulismus? Ist es gerechtfertigt, von einer „Übernahme“ zu sprechen? 

Während Okunew das Kolonialisierungsnarrativ problematisiert und auf die Wahlerfolge der Union im Osten hinweist, merkt Mensching an, dass die Ostler zwar für die Wiedervereinigung und die Währungsunion gestimmt haben, aber nie dafür, dass alle westlichen Verhältnisse in den neuen Bundesländern reproduziert und kopiert werden:

„Man hätte etwas einzubringen gehabt in diese Einheit.“

Die Erfahrungen, die man über 40 Jahre in dem anderen System gemacht habe, seien aber einfach ignoriert, sogar diskreditiert worden. „Das ist kolonial, das ist Dominanzverhalten, und das hat man praktiziert.“ Noch einmal die Brücke ins Heute: „Das fällt uns immer wieder auf die Füße: […] dass man seine eigene Meinung als einzig anerkennenswerte erstmal hinstellt. Diese arrogante Position ist äußerst gefährlich.“ Auch auf dem Podium kommen die bekannten Deutungskämpfe an die Oberfläche.

Die DDR als „universelle Weltgeschichte“

Soll man die DDR wie eine Dauerwelle rauswachsen lassen und nicht mehr darüber reden, um die Unterschiede zuzuschütten?, fragt Bianca Kellner-Zotz in Anlehnung an Alexander Osang und weiß eigentlich die Antwort: definitiv nicht. „Ich bin stolz darauf, in der DDR geboren zu sein,“ gibt Victoria Herrmann zu: „Ich habe einen Erfahrungsschatz, den man in Mannheim, Kiel oder München nicht sammeln konnte.“

„Es gibt nicht den Ost-Blick, aber ich habe meinen Ost-Blick,“

sagt Marion Brasch und macht damit deutlich, dass die Herkunft zwar einen Unterschied macht, doch die Kategorien „Ost“ und „West“ nicht ausreichen, wenn es um verschiedene Biografien und Wissensbestände geht. Nikolai Okunew greift am Ende der Diskussion diese These auf und plädiert dafür, all diese Erfahrungen ernst zu nehmen und dafür über weitere „Differenzkategorien“ nachzudenken:

„Es macht einen Unterschied, ob man schwarz oder weiß war, auch in der DDR, ob man Bausoldat war oder sich freiwillig länger bei der NVA verpflichtet hat, ob man in Rostock oder Rudolstadt gewohnt hat.“

Das Kapitel ‚DDR‘ ist somit nicht nur Teil der Familiengeschichte, die aufbewahrt und an künftige Generationen weitergegeben werden soll, sondern auch ein wichtiger Teil der Weltgeschichte. Wenn Steffen Mensching nach Südkorea eingeladen wird, um über die Deutsche Einheit zu sprechen und den Gastgebern damit zu helfen, sich auf die Vereinigung von Süd- und Nordkorea vorzubereiten – sollte diese jemals zustande kommen; wenn eine iranische Filmemacherin die Bücher von Marion Brasch ins Farsi übersetzen möchte, weil es „auch ihre Geschichte“ sei, – spätestens dann wird klar: Die Geschichte der DDR, ihres Anfangs und ihres Endes, gehört zu jenen „universellen Weltgeschichten,“ die bewahrt und mit Respekt und Zuhören immer weitererzählt werden müssen. Mit diesem Abendpodium und der dreieinhalbjährigen Projektarbeit leistete „Das mediale Erbe der DDR“ dazu seinen Beitrag.