Bricolage der Erinnerung: Das digitale Nachleben des DDR-Liedguts im internationalen Vergleich

Projektleitung: Prof. Dr. Frank Bösch (ZZF)
Bearbeiterin: Lea Frese-Renner

Die offiziellen Lieder der DDR erreichen heute in Gestalt von YouTube-Videos Millionen. Sie werden sie nicht mehr nur als Repräsentationen und Symbole der SED-Herrschaft wahrgenommen, sondern fungieren als Projektionsflächen für die Erinnerung an ihre Sozialisation in der DDR-Gesellschaft. Die vormals im „gemeinschaftlichen Singen“ (Brauer 2020: 350) eingeübten Lieder sind insofern weitaus mehr als bloße „Ersatzgesänge“ (Christa Wolf, ebd.: 349) und Bezugspunkte sehr unterschiedlicher, teils konträrer Erfahrungen. Die Rezeption der Nationalhymne der DDR, von politischen Liedern aus dem Kontext der Parteien und Massenorganisationen oder aus dem Bereich der schulischen Erziehung beschränkt sich nicht auf die sozialen Medien in (Ost)Deutschland. Auch in Ländern wie Chile oder Spanien, Ländern mit einer eigenen diktatorischen Vergangenheit, wird dieses Liedgut der DDR wahrgenommen und in den Kontext der eigenen Geschichte eingebettet. Dies gilt besonders für das linke Spektrum, das aufgrund von Emigration oder politischer Sympathie Bindungen an die DDR entwickelte. Das Projekt erforscht diese transnationalen Aneignungen in einer vergleichenden Perspektive anhand von Social-Media-Plattformen wie YouTube.

Ferner wird danach gefragt, ob und inwieweit sich ähnliche Phänomene der postdiktatorischen Erinnerung in den sozialen Medien auch für das politische Liedgut feststellen lassen, das in Spanien (Franco) und Chile (Pinochet) überliefert wird (Ruderer 2010, Collado Seidel 2016). Mit Blick auf die transnationalen Dynamiken von YouTubeuntersucht das Vorhaben somit den „Umgang mit Diktaturerfahrungen“ und „Diktaturdeutungen“ in Ost und West (Großbölting/Hofmann 2007, Meding 2021) auf einem bislang kaum erforschten Feld. Erforscht werden so Formen einer populären „Kosmopolitisierung“ der Erinnerung, in der „widerstreitende Elemente und Momente“ (Sznaider 2016: 13) und „memory clashes“ (Blaive/Gerbel/Lindenberger 2011) nebeneinander bestehen. Dazu soll auf Grundlage der audiovisuellen Gestaltung der Videos und der Kommentare Rezeptionsforschung (Weckel 2019) als Erinnerungsforschung betrieben werden. Angestrebt wird eine monografische Online-Publikation, in die sich Videos einbetten und kontextualisieren lassen.